Nachfolgender offener Brief ging am 5.12. 2019 an alle Architektenkammern und Berufsverbände der Architekten, verbunden mit der Anregung, ein Gespräch zu führen:

Sehr verehrte Damen,
sehr geehrte Herren,

nach vielen Jahren beruflicher Erfahrung und dem Privileg, mit unserem Büro zu dem Kreis von Architektur- und Städtebaubüros zu gehören, die des Öfteren nach Bewerbungsverfahren zu Wettbewerben eingeladen und das eine oder andere Mal erfolgreich sind, erlaube ich mir, das System der VgV-Verfahren grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Verfahren gefährden den Berufsstand nicht nur wirtschaftlich, sondern sie setzen die architektonischen und städtebaulichen „unaustauschbaren“ Leistungen, die vorhanden, geleistet und wertbar sind, gleich mit spekulativen, prognostizierten Kriterien von vermuteter Belastbarkeit. Es ist bei der Auslegung europäischer Vergaberichtlinien zu einem tragischen Denkfehler gekommen, als könnte es sein, dass eine prämierte Gestaltung als beste Lösung einer architektonischen Aufgabe durch Honorarfragen oder andere subjektive Kriterien derart „belastet“ wird, dass Gestaltung austauschbar ist. Nach zwei aktuellen Erfahrungen nach Juryentscheidungen, zum Teil einstimmig mit dem ersten Preis bedacht, ist durch ein nachgeordnetes Verfahren mit einem anderen Personenkreis eine lokale bzw. „Beziehungsentscheidung“ gefallen. Das ist empörend! Beide Male wurde die Architektur-Entscheidung lediglich mit 35 % gewertet, aus gutem Grund, wie wir erfahren mussten.
Nochmals aber: Es geht nicht darum, ob Juryentscheidungen mit 35 %, 50 % oder 70 % eingehen: Es geht darum, dass Juryentscheidungen überhaupt ausgehebelt werden können durch spekulative Kriterien wie vermutete Termin- und Kostentreue, Gesamteindruck der Präsentation oder die Frage, welches Studium der Projektleiter hat.

Eine Juryentscheidung, wenn sie denn stattgefunden hat, muss unanfechtbar zu dem letztendlich einzigen unterscheidbaren Kriterium der Bewerber werden. Ich hoffe, die Tragweite der Kritik wird begriffen als eine grundsätzliche, die die gesamte Architektenschaft, aber auch die Öffentlichkeit dazu bewegen sollte, nach neuen Lösungen zu suchen, denn die Verschiebung der Letztentscheidung über unsere gestalterische Umwelt auf gestaltungsferne Kriterien durch einen wesentlich anders strukturierten und nach keine Kriterien geregelten Personenkreis verändert Stück für Stück den Berufsstand mit schleichend problematischem Phänomen.

Johannes Kister